AK 99/23
BUNDESGERICHTSHOF AK 99/23 BESCHLUSS vom 11. Januar 2024 in dem Strafverfahren gegen wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland u.a.
ECLI:DE:BGH:2024:110124BAK99.23.0 Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Angeschuldigten und seines Verteidigers am 11. Januar 2024 gemäß §§ 121, 122 StPO beschlossen:
Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.
Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.
Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht München übertragen.
Gründe:
I.
Der Angeschuldigte ist am 28. Juni 2023 vorläufig festgenommen worden. Aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts München vom 29. Juni 2023 (OGs 58/23) befindet er sich seit diesem Tag ununterbrochen in Untersuchungshaft.
Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeschuldigte habe sich von April bis August 2015 als Mitglied an einer Vereinigung im Ausland beteiligt, deren Zwecke oder Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord und Totschlag zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB. Er sei von Moskau kommend nach Syrien eingereist. Dort habe er sich dem „Islamischen Staat“ (IS) angeschlossen, sich einer militärischen Ausbildung bei dieser Organisation unterzogen und sich als Kämpfer für sie betätigt. Er habe, mit einem Sturmgewehr AK-47 Kalaschnikow bewaffnet, an dem Angriff auf eine große Militärbasis der syrischen Streitkräfte bei Aleppo teilgenommen.
Nach mündlicher Haftprüfung hat der Ermittlungsrichter des Oberlandesgerichts mit Beschluss vom 11. September 2023 (OGs 66/23) die Haftfortdauer angeordnet.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat am 23. November 2023 Anklage zum Oberlandesgericht erhoben. Sie legt dem Angeschuldigten über den haftbefehlsgegenständlichen Vorwurf hinaus zur Last, er habe durch eine weitere selbständige Handlung versucht, einen anderen Menschen aus niedrigen Beweggründen zu töten (§ 211 Abs. 2 Fall 4, §§ 22, 23 Abs. 1 StGB), und sich auch dadurch an der ausländischen terroristischen Vereinigung „IS“ beteiligt. Bei dem Angriff auf den von der syrischen Armee gehaltenen Militärflughafen Kuwairis in der Region Aleppo habe er mit dem Sturmgewehr AK-47 Kalaschnikow mindestens einmal in Richtung der syrischen Soldaten geschossen und dabei deren Tod billigend in Kauf genommen.
II.
Die Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft und ihre Fortdauer über sechs Monate hinaus liegen vor.
1. Der Angeschuldigte ist der ihm angelasteten Tat dringend verdächtig.
a) Nach dem bisherigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:
aa) Der „Islamische Staat“ ist eine Organisation mit militant-fundamentalistischer islamischer Ausrichtung, die es sich ursprünglich zum Ziel gesetzt hatte, einen das Gebiet des Irak und die historische Region „ash-Sham“ (die heutigen Staaten Syrien, Libanon und Jordanien sowie Palästina) umfassenden und auf ihrer Ideologie gründenden „Gottesstaat“ unter Geltung der Scharia zu errichten und dazu die schiitisch dominierte Regierung im Irak und das Regime des syrischen Präsidenten Assad zu stürzen. Zivile Opfer nahm und nimmt sie bei ihrem fortgesetzten Kampf in Kauf, weil sie jeden, der sich ihren Ansprüchen entgegenstellt, als „Feind des Islam“ begreift; die Tötung solcher „Feinde“ oder ihre Einschüchterung durch Gewaltakte sieht der IS als legitimes Mittel des Kampfes an.
Die Führung der Vereinigung hatte seit 2010 bis zu seinem Tod im Oktober 2019 der „Emir“ Abu Bakr al-Baghdadi inne. Al-Baghdadi wurde von seinem Sprecher mit der Ausrufung des „Kalifats“ im Juni 2014 - die mit der Abstandnahme von der territorialen Selbstbeschränkung einherging - zum „Kalifen“ erklärt, dem die Muslime weltweit Gehorsam zu leisten hätten.
Dem Anführer des IS unterstanden ein Stellvertreter sowie „Minister“ als Verantwortliche für einzelne Bereiche, so ein „Kriegsminister“ und ein „Propagandaminister“. Zur Führungsebene gehörten außerdem beratende „Shura-Räte“. Veröffentlichungen wurden von eigenen Medienstellen produziert und verbreitet. Das auch von den Kampfeinheiten verwendete Symbol der Vereinigung besteht aus dem „Prophetensiegel“ (einem weißen Oval mit der Inschrift „Allah - Rasul Muhammad“) auf schwarzem Grund, überschrieben mit dem islamischen Glaubensbekenntnis. Die zeitweilig über mehrere Tausend Kämpfer waren dem „Kriegsminister“ unterstellt und in lokale Kampfeinheiten mit jeweils einem Kommandeur gegliedert.
Die Vereinigung teilte von ihr besetzte Gebiete in Gouvernements ein und richtete einen Geheimdienstapparat ein; diese Maßnahmen zielten auf die Schaffung totalitärer staatlicher Strukturen. Angehörige der irakischen und syrischen Armee, aber auch von in Gegnerschaft zum IS stehenden Oppositionsgruppen, ausländische Journalisten und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen sowie Zivilisten, die den Herrschaftsbereich des IS in Frage stellten, sahen sich der Verhaftung, Folter und der Hinrichtung ausgesetzt. Filmaufnahmen von besonders grausamen Tötungen wurden mehrfach vom IS zu Zwecken der Einschüchterung veröffentlicht. Darüber hinaus beging er immer wieder Massaker an Teilen der Zivilbevölkerung und außerhalb seines Machtbereichs Terroranschläge. So übernahm er für Anschläge in Europa, etwa in Paris, Brüssel und Berlin, die Verantwortung.
Im Jahr 2014 gelang es dem IS, große, aneinander angrenzende Teile der Staatsterritorien von Syrien und dem Irak zu besetzen. Ab dem Jahr 2015 geriet die Vereinigung militärisch zunehmend unter Druck und musste schrittweise massive territoriale Verluste hinnehmen. Im März 2019 galt der IS als militärisch besiegt, ohne dass die Vereinigung als solche zerschlagen wäre.
bb) Nachdem der Angeschuldigte in Moskau von einem Bekannten für den IS angeworben worden war, reiste er im April 2015 über die Türkei nach Syrien. In der Region Raqqa schloss er sich der Organisation an. Dort unterzog er sich einer zweimonatigen Ausbildung, wobei er je einen Monat lang religiös unterwiesen und auf einer Militärbasis bei Tabqa militärisch geschult wurde. Sodann wurde er nach Palmyra (Provinz Homs) verbracht und erhielt dort im Juli 2015 ein weiteres, etwa zweiwöchiges militärisches Training, unter anderem an einem Sturmgewehr der Kalaschnikow-Baureihe.
Später stellte sich der Angeschuldigte dem IS als Kämpfer zur Verfügung. Als solcher war er für 22 Tage in der Region Aleppo im Einsatz. Er nahm am Angriff der Organisation auf den von der syrischen Armee gehaltenen Militärflughafen Kuwairis teil. Während des Kampfgeschehens gab er mit dem Sturmgewehr Kalaschnikow Schüsse in Richtung der Soldaten ab.
Bei einer günstigen Gelegenheit flüchtete der Angeschuldigte im August 2015 aus dem Kampfgebiet, verließ den IS und reiste wieder von Syrien aus.
b) Hinsichtlich der ausländischen terroristischen Vereinigung „Islamischer Staat“ stützt sich der dringende Tatverdacht auf drei politikwissenschaftliche Gutachten und einen umfangreichen Auswertebericht des Bundeskriminalamts. Im Hinblick auf die mitgliedschaftliche Beteiligung des Angeschuldigten gründet er sich auf dessen geständige Einlassungen bei der polizeilichen und der ermittlungsrichterlichen Vernehmung, ferner auf seine Äußerungen bei drei Video- und Radiointerviews im Jahr 2016 sowie bei der Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Januar 2022. Seine Angaben stimmen im Kern und vielen Einzelheiten miteinander überein. Sie sind vom Bayerischen Landeskriminalamt sowie teilweise vom Bundeskriminalamt mit Erkenntnissen zum IS und dem syrischen Bürgerkriegsgeschehen abgeglichen worden; hiernach fügen sie sich in den bekannten zeitgeschichtlichen Hintergrund ein. Dagegen haben sich durch die Ermittlungen keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass diese Selbstbezichtigungen nicht zutreffen könnten. Die vom Bayerischen Landeskriminalamt durchgeführten Zeugenvernehmungen sind insoweit unergiebig geblieben.
Was den Vorsatz des Angeschuldigten sowie seine Beweggründe für den Anschluss an den IS und die Betätigung für diesen betrifft, so geht aus seinen Angaben hervor, dass er vor der Ausreise nach Syrien über die Vereinigung im Wesentlichen informiert war und ihre Ziele fördern wollte (etwa: „Interesse, beim ‚Kalifat‘ mitzumachen“). Außerdem hat er zu seiner Motivation für den Kampfeinsatz bekundet, er sei aufgrund seiner Wahrnehmungen vor Ort davon überzeugt gewesen, dass die Menschen vom syrischen Regime unterdrückt wurden. Soweit er sich darüber hinaus verschiedentlich dahin eingelassen hat, dass er von Seiten des IS auch Zwang und Druck erfahren habe, berührt dies den dringenden Tatverdacht nicht; vielmehr könnten im Fall einer Verurteilung entsprechende Feststellungen für das Strafmaß von Bedeutung sein.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Haftbefehl, den Abschlussbericht des Bayerischen Landeskriminalamts vom 6. Oktober 2023 und das in der Anklageschrift vom 16. November 2023 dargelegte wesentliche Ergebnis der Ermittlungen Bezug genommen.
c) In rechtlicher Hinsicht folgt aus alledem, dass der Angeschuldigte zumindest der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB dringend verdächtig ist. Die nach § 129b Abs. 1 Satz 2 und 3 StGB erforderliche Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung liegt für den IS vor. Die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts beruht auf § 7 Abs. 2 Nr. 2 in Verbindung mit § 129b Abs. 1 Satz 2 Variante 4 StGB. In Syrien ist der Anschluss an eine terroristische Organisation nach Art. 1 und 3 des dortigen Anti-Terror-Gesetzes Nr. 19 vom 28. Juni 2012 mit Strafe bedroht (s. BGH, Beschluss vom 9. März 2022 - AK 6/22, juris Rn. 42).
Hinsichtlich eines durch den Umgang mit dem Sturmgewehr Kalaschnikow tateinheitlich verwirklichten Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz (§ 22a Abs. 1 Nr. 6 Buchst. a KrWaffKG i.V.m. Teil B Nr. 29 Buchst. c der Anlage zum KrWaffKG) ist nach § 78 Abs. 3 Nr. 4, § 78a Satz 1 StGB Verfolgungsverjährung eingetreten, was gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 StGB die Ahndung der Tat unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt ausschließt.
d) Für die Haftfrage kann dahinstehen, ob sich der vom Strafsenat des Oberlandesgerichts vorgelegte vollzogene Haftbefehl, der allein Gegenstand der Haftprüfung durch den Senat ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Juli 2016 - AK 41/16, juris Rn. 8; vom 6. Dezember 2017 - AK 63/17, NStZ-RR 2018, 53, 54; vom 11. Juli 2023 - AK 35/23, StB 34/23, juris Rn. 17 mwN), auch auf den mit der Anklage erhobenen Vorwurf des versuchten Mordes erstreckt und ob hierfür ebenfalls ein dringender Tatverdacht gegeben ist. Denn bereits der ursprüngliche Vorwurf trägt für sich gesehen den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft.
2. Es liegen die Haftgründe der Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO und der Schwerkriminalität nach § 112 Abs. 3 StPO vor.
a) Bei Würdigung der Umstände bestünde, falls der Angeschuldigte auf freien Fuß gelangte, die Gefahr, dass er sich dem Strafverfahren entzieht.
Im Fall seiner Verurteilung hat der Angeschuldigte auch unter Außerachtlassung des Vorwurfs des versuchten Mordes eine empfindliche, einen erheblichen Fluchtanreiz begründende Strafe zu erwarten. Dem stehen keine hinreichenden fluchthindernden Umstände gegenüber. Der Angeschuldigte, der tadschikischer Staatsangehöriger ist und im Oktober 2021 erstmals nach Deutschland einreiste, verfügt über keinen gültigen Aufenthaltstitel. Die ihm zunächst erteilte Aufenthaltsgestattung ist nicht mehr gültig. Mit - nicht bestandskräftigem Bescheid des BAMF vom 13. Januar 2023 ist ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, der Asylantrag abgelehnt, ein subsidiärer Schutzstatus nicht gewährt und die Abschiebung angedroht worden. Der Angeschuldigte hat allenfalls unzulängliche Deutschkenntnisse und keine sozialen Bindungen im Inland. Seine Ehefrau wohnt in Sankt Petersburg. Er war vor seiner Inhaftierung in einer Flüchtlingsunterkunft untergebracht und lebte von staatlichen Transferleistungen. Wenngleich er sich bereits in Video- und Radiointerviews sowie bei seiner Anhörung durch das BAMF selbst belastet hatte, ist er über das gegen ihn geführte Ermittlungsverfahren erstmals unmittelbar vor seiner vorläufigen Festnahme unterrichtet worden.
Wegen näherer Einzelheiten zu den für die Beurteilung maßgeblichen tatsächlichen Umständen wird auf die Haftfortdauerentscheidung des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts sowie den Aktenvermerk des Bayerischen Landeskriminalamts „zur Beurteilung des Haftgrundes Fluchtgefahr“ vom 28. Juni 2023 verwiesen.
b) Überdies kann die gegen den Angeschuldigten vollzogene Untersuchungshaft auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO auf den dort geregelten Haftgrund der Schwerkriminalität gestützt werden. Denn die zu würdigenden Umstände begründen erst recht die Gefahr, dass die Ahndung der jeweiligen Tat ohne seine weitere Inhaftierung vereitelt werden könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 20. April 2022 - StB 15/22, juris Rn. 11 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 112 Rn. 37, jeweils mwN).
3. Eine - bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO mögliche - Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO analog) ist nicht erfolgversprechend. Unter den gegebenen Umständen kann der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als ihren Vollzug erreicht werden.
4. Die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor. Der besondere Umfang und die besondere Schwierigkeit der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die weitere Vollstreckung des Haftbefehls.
a) Das Verfahren ist bislang mit der in Haftsachen gebotenen Zügigkeit geführt worden:
Nach der vorläufigen Festnahme am 28. Juni 2023 hat das Bayerische Landeskriminalamt das vom Angeschuldigten an demselben Tag abgelegte polizeiliche Geständnis überprüft, insbesondere eine islamwissenschaftliche Bewertung der Angaben gefertigt und vier Zeugen aus dessen persönlichem Umfeld vernommen. Sodann hat es am 2. November 2023 seinen Schlussbericht vorgelegt.
Nach der Anklageerhebung durch die Generalstaatsanwaltschaft hat der Vorsitzende des mit der Sache befassten Strafsenats des Oberlandesgerichts am 27. November 2023 die Zustellung der Anklageschrift mit einer angemessenen Stellungnahmefrist von sechs Wochen verfügt; zugleich hat er eine Übersetzung des Texts in die russische Sprache veranlasst.
b) Über die Eröffnung des Hauptverfahrens ist noch nicht entschieden. Für diesen Fall beabsichtigt der Strafsenat des Oberlandesgerichtes ausweislich seines Vorlagebeschlusses, die Hauptverhandlung mit Blick auf das Beschleunigungsgebot noch im Februar 2024 durchzuführen (zum Prüfungsmaßstab vgl. LR/Gärtner, StPO, 27. Aufl., § 121 Rn. 87 mwN).
5. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht derzeit nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Fall einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
Schäfer Berg Erbguth