VIa ZR 716/23
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES VIa ZR 716/23 URTEIL in dem Rechtsstreit Verkündet am: 14. Mai 2024 Bachmann Justizfachangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle ECLI:DE:BGH:2024:140524UVIAZR716.23.0 Der VIa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 14. Mai 2024 durch die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. C. Fischer als Vorsitzende, die Richterinnen Möhring, Dr. Krüger, Wille und den Richter Liepin für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Naumburg vom 20. April 2023 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen Tatbestand:
Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
Die Klägerin kaufte am 12. Februar 2016 von einem Händler einen von der Beklagten hergestellten gebrauchten Mercedes-Benz A 180 CDI BE, der mit einem von der Firma R. produzierten Dieselmotor der Baureihe OM 607 ausgerüstet ist. In dem Fahrzeug wird die Abgasrückführung temperaturabhängig gesteuert und unter Einsatz eines sogenannten "Thermofensters" bei kühleren Temperaturen verringert.
Die Klägerin hat zuletzt den Ersatz eines Minderwerts des Fahrzeugs in Höhe von 20% des Kaufpreises nebst Prozesszinsen, die Feststellung des Herrührens des Zahlungsanspruchs aus einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung sowie die Freistellung von außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten begehrt.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Berufungsanträge weiter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision der Klägerin hat Erfolg.
I.
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
Die Klägerin habe keinen Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB. Zu ihren Gunsten könne unterstellt werden, dass das Thermofenster als unzulässige Abschalteinrichtung zu qualifizieren sei. Sie habe jedoch weder dargelegt, dass die Einrichtung unter den für den Prüfzyklus maßgebenden Bedingungen im realen Fahrbetrieb anders als auf dem Prüfstand funktioniere, noch sonstige Umstände aufgezeigt, die das Verhalten der für die Beklagte handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen. Außerdem sei der Klägerin kein Schaden entstanden. Es sei nicht erkennbar, dass der Abschluss des Kaufvertrags für sie nachteilig gewesen sei. Zu keinem Zeitpunkt habe die auch nur abstrakte Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung bestanden. Das Fahrzeug sei nicht von einem vom Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) veranlassten Rückruf wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung betroffen gewesen, zumal es das Software-Update bereits erhalten habe.
Die Beklagte hafte auch nicht gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV. Das Interesse, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, liege nicht - wie es Voraussetzung auch für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf "kleinen" Schadensersatz sei - im Schutzbereich der Bestimmungen der EG-FGV. Zudem habe die Klägerin keinen danach zu ersetzenden Schaden erlitten. Bisher bestehe allenfalls eine abstrakte Unsicherheit hinsichtlich der Möglichkeit, das Fahrzeug anzumelden, zu verkaufen oder in Betrieb zu nehmen. Diese Unsicherheit habe bei der Klägerin bisher noch nicht zu einem Schaden in Form der realen Einschränkung der Nutzungsmöglichkeit geführt.
II.
Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
1. Allerdings begegnet es keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten als (bloßer) Fahrzeugherstellerin aus §§ 826, 31 BGB mangels eines sittenwidrigen Verhaltens verneint hat. Die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen hat der Senat geprüft und nicht für durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird gemäß § 564 Satz 1 ZPO abgesehen. Unter diesen Umständen kommt es nicht darauf an, dass mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung ein Schaden nicht verneint werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 6. Juli 2021 - VI ZR 40/20, BGHZ 230, 224 Rn. 19 f. und 23; vgl. auch BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 40 f.).
2. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV abgelehnt hat. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein solcher Schadensersatzanspruch nicht verneint werden.
a) Das Berufungsgericht hat den Schutzgesetzcharakter der Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV mit Blick auf die von der Klägerin eingegangene Verbindlichkeit zu Unrecht verneint. Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 29 bis 32).
Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf die Gewährung sogenannten "kleinen" Schadensersatzes verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 73 bis 79; Urteil vom 16. Januar 2024 - VIa ZR 1136/22, juris Rn. 11). Es hat jedoch nicht beachtet, dass der Klägerin nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, NJW 2024, 361 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom 12. Oktober 2023 - VII ZR 412/21, juris Rn. 20).
b) Der rechtlichen Nachprüfung ebenfalls nicht stand hält die Annahme des Berufungsgerichts, die Klägerin habe keinen nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ersatzfähigen Schaden erlitten, weil sie das Fahrzeug bislang uneingeschränkt habe nutzen können. Der Eintritt eines Differenzschadens kann nicht deshalb verneint werden, weil die Typgenehmigungsbehörde bisher von einschränkenden Maßnahmen wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung abgesehen hat und es deswegen noch nicht zu Einschränkungen beim Betrieb des Fahrzeugs gekommen ist. Mit Rücksicht auf den geldwerten Vorteil der jederzeitigen Verfügbarkeit eines Fahrzeugs genügt für einen Schadenseintritt die im Zeitpunkt des Vertragsschlusses bestehende rechtliche Möglichkeit einer Nutzungsbeschränkung, die - entgegen der vom Berufungsgericht in anderem Zusammenhang geäußerten Ansicht - schon wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung gegeben ist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 41 f.; Urteil vom 27. November 2023 - VIa ZR 1425/22, DAR 2024, 204 Rn. 26).
III.
Das angefochtene Urteil ist aufzuheben, § 562 Abs. 1 ZPO, weil es sich nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil diese nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird die Klägerin Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen und einen entsprechenden Zahlungsantrag zu stellen. Dabei wird sie zu beachten haben, dass ein ersatzfähiger Differenzschaden nicht mit dem bislang ersetzt verlangten Minderwert des Fahrzeugs gleichzusetzen ist (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 73 bis 76; Urteil vom 16. Januar 2024 - VIa ZR 1136/22, juris Rn. 13) und nicht höher als 15% des gezahlten Kaufpreises sein kann (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 74 f.). Die dagegen gerichteten Einwände der Revision (vgl. auch LG Ravensburg, Beschluss vom 27. Oktober 2023 - 2 O 331/19, juris Rn. 102 ff.) geben dem Senat keinen Anlass zur Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung.
Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245) die erforderlichen Feststellungen zu der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben. Dabei wird es zu berücksichtigen haben, dass die Beklagte als Fahrzeugherstellerin auch hinsichtlich des von der Firma R. bezogenen und in das Fahrzeug eingebauten Motors die Sorgfaltspflichten einer Herstellerin treffen (vgl. BGH, Urteil vom 9. Oktober 2023 - VIa ZR 26/21, NJW-RR 2024, 293 Rn. 14).
C. Fischer Wille Möhring Liepin Krüger Vorinstanzen: LG Stendal, Entscheidung vom 11.03.2022 - 21 O 180/21 OLG Naumburg, Entscheidung vom 20.04.2023 - 9 U 60/22 -