VIa ZR 644/22
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES VIa ZR 644/22 URTEIL in dem Rechtsstreit Verkündet am: 16. Oktober 2023 Bürk Amtsinspektorin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle ECLI:DE:BGH:2023:161023UVIAZR644.22.0 Der VIa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 16. Oktober 2023 durch die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Menges als Vorsitzende, die Richterinnen Möhring, Dr. Krüger, den Richter Liepin und die Richterin Dr. Vogt-Beheim für Recht erkannt: Auf die Revision des Klägers wird der Beschluss des 17. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 30. März 2022 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung des Klägers betreffend seine deliktische Schädigung durch das Inverkehrbringen des in seinem Berufungsantrag zu 1 näher bezeichneten Fahrzeugs zurückgewiesen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen Tatbestand:
Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
Der Kläger kaufte am 1. April 2016 von der Beklagten als Verkäuferin einen von ihr hergestellten gebrauchten BMW 320D Touring Sport Line, der mit einem Motor der Baureihe N47D20O1 (Schadstoffklasse Euro 5) ausgerüstet ist. Die Motorsteuerungssoftware des Fahrzeugs verfügt über ein Thermofenster.
Der Kläger hat die Erstattung des Kaufpreises nebst Zinsen abzüglich einer Nutzungsentschädigung Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs, die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten sowie die Erstattung vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten nebst Zinsen begehrt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist erfolglos geblieben. Mit seiner vom Senat insoweit zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Berufungsanträge weiter, soweit er sie auf seine deliktische Schädigung durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs stützt.
Entscheidungsgründe:
Die Revision des Klägers hat Erfolg.
I.
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - im Wesentlichen wie folgt begründet:
Der Vortrag von "Mängeln" und "unzulässigen Abschalteinrichtungen" belege kein sittenwidriges Verhalten der Beklagten. Sofern im realen Fahrbetrieb höhere NOx-Werte im Abgas messbar seien als auf dem Prüfstand, besage dies nichts zur Sittenwidrigkeit. Auch die Verwendung eines Thermofensters sei für sich nicht sittenwidrig. Wenn eine signifikante Reduktion der Abgasrückführung "jedenfalls bei einer Temperatur von 5 Grad Celsius erfolgt", besage dies gerade,
dass diese nicht nur für den Prüfstand, sondern auch für den realen Straßenbetrieb eingerichtet sei. Schadensersatzansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit den Verordnungen zur Regelung des Abgasverhaltens (EG-FGV, Verordnung (EG) Nr. 715/2007) entfielen mangels Schutzgesetzeigenschaft.
II.
Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
1. Es begegnet keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht die Voraussetzungen eines Anspruchs des Klägers gegen die Beklagte aus §§ 826, 31 BGB nicht für gegeben erachtet hat. Die Revision erhebt insoweit auch keine Einwände.
2. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV wegen der Verwendung eines Thermofensters aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Wie der Senat nach Erlass der Berufungsentscheidung entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 29 bis 32, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ).
Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch des Klägers auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch unberücksichtigt gelassen, dass dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, ZIP 2023, 1903 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.). Demzufolge hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder dem Kläger Gelegenheit zur Darlegung eines solchen Schadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
III.
Die angefochtene Entscheidung ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben, § 562 ZPO, weil sie sich insoweit auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Das Berufungsgericht hat keine tragfähigen Feststellungen getroffen, auf deren Grundlage eine deliktische Haftung der Beklagten wegen einer jedenfalls fahrlässigen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung verneint werden könnte. Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird der Kläger Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259) die erforderlichen Feststellungen zu der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben.
Menges Möhring Krüger Liepin Vogt-Beheim Vorinstanzen: LG München I, Entscheidung vom 23.07.2021 - 11 O 2316/21 OLG München, Entscheidung vom 30.03.2022 - 17 U 6199/21 -