III ZR 259/20
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES III ZR 259/20 URTEIL in dem Rechtsstreit Verkündet am: 2. Mai 2024 Uytterhaegen Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle ECLI:DE:BGH:2024:020524UIIIZR259.20.0 Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat im schriftlichen Verfahren gemäß § 128 Abs. 2 ZPO, in dem Schriftsätze bis zum 4. April 2024 eingereicht werden konnten, durch den Vorsitzenden Richter Dr. Herrmann, die Richterinnen Dr. Arend und Dr. Böttcher sowie die Richter Dr. Herr und Liepin für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Naumburg vom 27. August 2020 - 1 U 272/19 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung der Klägerin in Bezug auf eine mögliche deliktische Schädigung durch das Inverkehrbringen des von ihr erworbenen Fahrzeugs zurückgewiesen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des dritten Rechtszugs an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen Tatbestand Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Schadensersatz wegen Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen für die Abgasreinigung in einem Kraftfahrzeug in Anspruch.
Die Klägerin erwarb im Oktober 2016 von der Beklagten ein von ihr hergestelltes Fahrzeug. Die Abgasreinigung erfolgt über eine Abgasrückführung, durch die ein Teil der Abgase wieder der Verbrennung im Motor zugeführt wird. Die Abgasrückführung wird unter Einsatz eines sogenannten Thermofensters temperaturabhängig gesteuert. Das Fahrzeug ist zudem mit einem SCR-Katalysator ausgerüstet.
Für den Fahrzeugtyp wurde die Typgenehmigung nach der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge (ABl. L 171 vom 29. Juni 2007, S. 1) mit der Schadstoffklasse Euro 6 erteilt. Mit Bescheid vom 3. August 2018 erließ das Kraftfahrt-Bundesamt wegen der Verwendung unzulässiger Emissionsstrategien beim Betrieb des SCR-Katalysators nachträgliche Nebenbestimmungen zu dieser EG-Typgenehmigung. Dagegen legte die Beklagte Widerspruch ein.
Die Klägerin hat zuletzt beantragt, die Beklagte zur Zahlung von 45.569,48 € (Kaufpreis abzüglich einer Nutzungsentschädigung) nebst Prozesszinsen Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs zu verurteilen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben. Mit der vom Senat insoweit zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren Antrag weiter, soweit sie diesen auf ihre deliktische Schädigung durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs stützt.
Entscheidungsgründe Die Revision der Klägerin hat Erfolg. Sie führt im tenorierten Umfang zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und insoweit zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung, soweit für das Revisionsverfahren von Interesse, im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:
Ein Schadensersatzanspruch der Klägerin aus § 826 BGB bestehe weder wegen des Thermofensters noch wegen der Verwendung unzulässiger Emissionsstrategien beim Betrieb des SCR-Katalysators. Dabei könne dahinstehen, ob es sich hierbei um unzulässige Abschalteinrichtungen handele. Allein mit dem Inverkehrbringen eines solchermaßen beschaffenen Fahrzeugs liege noch keine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung potentieller Käufer vor.
Es sei nicht ersichtlich, dass das Fahrzeug der Klägerin mit einer Motorsteuerungssoftware in Verkehr gebracht worden sei, die bewusst und gewollt so programmiert gewesen sei, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte mittels einer unzulässigen Abschalteinrichtung nur auf dem Prüfstand hätten eingehalten werden können. Die hier zu diskutierenden Abschalteinrichtungen arbeiteten im normalen Fahrbetrieb in gleicher Weise wie auf dem Prüfstand.
Eine Sittenwidrigkeit komme nur in Betracht, wenn über die bloße Kenntnis von der Verwendung einer bestimmten Software hinaus zugleich Indizien dafür vorlägen, dass das Handeln der Mitarbeiter der Beklagten von dem Bewusstsein getragen gewesen sei, hierdurch zum Schaden der Fahrzeugerwerber möglicherweise gegen gesetzliche Regelungen zu verstoßen, und all dies zumindest billigend in Kauf genommen worden wäre. Solche Anhaltspunkte lege die Klägerin nicht dar. Sie seien auch sonst nicht ersichtlich.
Die Klägerin könne ihre Schadensersatzforderung gegen die Beklagte auch nicht auf § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EGFGV oder Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 stützen, weil diese Vorschriften nicht den Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts des einzelnen Käufers bezweckten.
II.
Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
1. Allerdings begegnet es keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus § 826 BGB verneint hat.
a) Damit eine unzulässige Abschalteinrichtung eine Haftung des Fahrzeugherstellers wegen sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung gemäß §§ 826, 31 BGB auslösen kann, müssen nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs weitere Umstände hinzutreten, die das Verhalten des Fahrzeugherstellers als besonders verwerflich erscheinen lassen. Einen solchen Umstand kann es darstellen, dass die unzulässige Abschalteinrichtung danach unterscheidet, ob das Kraftfahrzeug auf einem Prüfstand dem Neuen Europäischen Fahrzyklus unterzogen wird oder ob es sich im normalen Fahrbetrieb befindet. Bei der Prüfstandsbezogenheit handelt es sich um eines der wesentlichen Merkmale, nach denen eine unzulässige Abschalteinrichtung die Anforderungen an eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung im Sinne des § 826 BGB erfüllt. Die Tatsache, dass eine Software ausschließlich im Prüfstand die Abgasreinigung grenzwertkausal verstärkt aktiviert, indiziert eine objektiv sittenwidrige arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde (Senat, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 303/20, juris Rn. 11 f und vom 19. Oktober 2023 - III ZR 221/20, WM 2024, 214 Rn. 16; BGH, Urteil vom 11. Dezember 2023 - VIa ZR 1012/22, juris Rn. 11; jew. mwN).
Sofern die verwendete Abschalteinrichtung nicht grenzwertkausal ist oder auf dem Prüfstand und im normalen Fahrbetrieb im Grundsatz in gleicher Weise funktioniert, kommt eine Haftung nach §§ 826, 31 BGB nur in Betracht, wenn die konkrete Ausgestaltung der Abschalteinrichtung angesichts der sonstigen Umstände die Annahme eines heimlichen und manipulativen Vorgehens oder einer Überlistung der Typgenehmigungsbehörde rechtfertigen kann. Diese Annahme setzt jedenfalls voraus, dass - hier - der Fahrzeughersteller bei der Entwicklung und/oder Verwendung der Abschalteinrichtung in dem Bewusstsein handelte, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahm. Fehlt es daran, ist bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt (st. Rspr., vgl. nur Senat, Urteile vom 20. Juli 2023 aaO Rn. 13 und vom 19. Oktober 2023 aaO Rn. 17; BGH aaO; jew. mwN).
b) In Übereinstimmung mit diesen Grundsätzen hat das Berufungsgericht ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten verneint. Den Vortrag der Klägerin zur Implementierung einer prüfstandsbezogenen Abschalteinrichtung im Klägerfahrzeug hat es für prozessual unbeachtlich angesehen. Soweit es in Gestalt des Thermofensters und mit Blick auf die vom Kraftfahrt-Bundesamt beanstandeten Emissionsstrategien beim Betrieb des SCR-Katalysators die Verwendung von zwei unzulässigen Abschalteinrichtungen im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 unterstellt hat, hat es keine greifbaren Anhaltspunkte dafür gesehen, dass das Handeln der für die Beklagte handelnden Personen von dem Bewusstsein getragen war, gegen gesetzliche Regelungen zu verstoßen. Diese Würdigung des Parteivortrags ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen hat der Senat geprüft und für nicht durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird gemäß § 564 Satz 1 ZPO abgesehen.
2. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Nach der neueren nach Erlass des Berufungsurteils mit Blick auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 21. März 2023 (C-100/21, NJW 2023, 1111) ergangenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. Senat, Urteil vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, WM 2023, 1839 Rn. 22; BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 29 ff).
Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. BGH aaO Rn. 22 ff). Der Klägerin kann jedoch ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen, zu dem das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus konsequent - nähere Feststellungen nicht getroffen hat (vgl. Senat, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20 aaO Rn. 21 ff und vom 19. Oktober 2023 aaO Rn. 23 ff; BGH, Urteile vom 26. Juni 2023 aaO Rn. 28 ff und vom 26. Oktober 2023 - VII ZR 306/21, juris Rn. 9 f).
III.
Das angefochtene Urteil ist in dem tenorierten Umfang aufzuheben, § 562 ZPO, weil es sich insoweit auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird die Klägerin Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen.
Herrmann Arend Böttcher Herr Liepin Vorinstanzen:
LG Halle, Entscheidung vom 24.10.2019 - 4 O 479/18 - OLG Naumburg, Entscheidung vom 27.08.2020 - 1 U 272/19 -